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Hochbegabtes Bauernkind – meine Geschichte

Ein Bauernkind bin ich. Auf einem kleinen Dorf mit etwa 500 Einwohnern aufgewachsen.

Ich war das jüngste Kind und das einzige Mädchen in meiner Familie. Noch dazu mit einem außergewöhnlichen Vornamen. Irgendwie habe ich mich immer anders gefühlt als die anderen Kinder im Dorf. Und irgendwie gehörte ich nie dazu. Weder im Kindergarten noch in der Grundschule und danach auch nicht.

Die erste Klasse war noch gut – dort bekam ich viel Freiraum und mein Lehrer mochte mich. Das spürte ich auch und fühlte mich angenommen. In der 2. Klasse wechselte ich den Schulort. Die Lehrerin dort hatte ich dann 3 Jahre. Eine Zeit in der sie es schaffte, dass ich meinen Glauben an meine mathematischen Fähigkeiten verliere. Auch lernte ich erste Ungerechtigkeiten kennen. Wenn die Hausarzttochter neben mit in der Deutschprobe (die sie von mir abgeschrieben hatte) eine besser Note bekam als ich, wusste ich sehr genau woran das lag….

Gymnasium

Die Noten reichten fürs Gymnasium – also wechselte ich dahin. Das Gymnasium war ein kalter und beziehungsloser Ort. Der schwarze Steinfußboden stand synonym für meine Gefühle an diesem Ort.

Ein Mädchen aus der Stadt wurde meine Schulfreundin. Sie liebte Pferde und hatte vermutlich auch deshalb keine Abneigung gegen ein Bauernmädchen. Einmal meinte sie – ich kam mit meinen Eltern zu einer Abendveranstaltung ans Gymnasium – ich rieche so gut. In mir rasten die Gedanken durch den Kopf – was, rieche ich nach Stall? Ich bin doch nur am Stall entlang gelaufen und war gar nicht drin… Sie bemerkte meine Irritation und führte aus: „Du riechst nach Milch.“ Die Peinlichkeit war geschehen und ich fühlte mich beschämt. Das Bauernmädchen, man riecht es sogar. Ich spürte, das ich „unter“ ihrem Stand war. Ihre Eltern waren akademisch gebildet – meine nicht. Die Herkunft brachte eine unsichtbare, aber für mich spürbare Stufe zwischen uns. Ich mochte sie sehr aber ich spürte immer auch den Unterschied.

Der Englischlehrer teilte die Probenergebnisse aus. Zu mir blickend sagte er: „Olivera….“ Alle blickten prustend und lachend zu mir. Mein Lehrer lief rot an und faselte was von: „.. das ist ein typischer Name in Italien“. Dabei fasste er sich an die Glatze und lief rot an. Ich wäre am liebsten im Boden versunken vor Scham und Fremdscham.

Mein Mathelehrer in der 7. Klasse – die anderen davor waren unterirdisch und halfen mir sehr dabei meine Matheblockade zu verstärken – teilte die Ex aus und verkündete bei mir feierlich, dass ich es diesmal sogar zu einer 5 geschafft hatte. Er sah dabei zugewandt und nett aus. Vermutlich merkte er gar nicht, wie sehr er mich damit beschämte.

Häufig fiel es den Lehrkräften nicht auf, wie sehr ihr Verhalten die Schülerinnen und Schüler beschämte. Sie hatten scheinbar einfach keine Ahnung von pädagogischem Handeln.

Wechsel an die Realschule

Mitte der 7. Klasse wechselte ich mit 2 Fünfern im Zeugnis – man ahnt es: in Mathe und Latein – auf die Realschule. Latein wählte ich übrigens weil es als einfacher angepriesen wurde. Man könne es viel leichter lernen als Französisch. Später auf der Realschule habe ich freiwillig Französisch am Nachmittag gelernt. Erstaunlicherweise viel es mir um Welten einfacher als Latein. Vielleicht lag es auch an der Sinnhaftigkeit?

Mein Mathelehrer an der Realschule war zugewandt und nett. Er ging im Unterricht auch mal durch die Klasse und erklärte einzelnen Schülerinnen und Schülern etwas wenn er bemerkte, dass sie es noch nicht verstanden hatten. Meine Noten in Mathe verbesserten sich ohne weiteres Zutun auf eine 3. Aber mein Glaube an meine mathematischen Fähigkeiten, meine Angst vor Beschämung in diesem Fach waren so groß, das ich den vermeintlich leichtesten Zweig an der Schule wählte: Den hauswirtschaftlichen Zweig ohne Mathe! Das ging damals in Bayern!

Hauswirtschaft und Soziales

Vom Empfinden her war der soziale, hauswirtschaftliche Zweig für diejenigen gedacht, die nicht clever genug waren für Wirtschaft oder Technik. Wir waren zwar zuständig für die Verpflegung bei Schulveranstaltungen und mussten vieles organisieren, aber das Ansehen dafür war gering. wir hatten auch Wirtschaft und Rechnungswesen bei unserem Schulleiter. Aber dem war es so unwichtig uns zu unterrichten, dass 2/3 des Unterrichts gar nicht stattfand. Manchmal bekamen wir einen Ersatzlehrer, der uns dann in hoher Geschwindigkeit mal eben Rechnungswesen erklärte und entrüstet war, wie wenig wir darüber wussten. Laut unserem Schulleiter hatten wir sogar eine gut ausgefallene Ex geschrieben, die wir nie geschrieben hatten. Für uns fühlte es sich an als wären wir halt nicht wichtig genug um ordentlich unterrichtet zu werden. Keine Ahnung wie wir alle trotzdem die Abschlussprüfung in Rechnungswesen geschafft haben….

Dennoch – ich fühlte mich wohler an dieser Schule. Die Lehrkräfte waren zugewandt und schienen tatsächlich Interesse an uns zu haben. Ganz anders als am Gymnasium. Mein Selbstvertrauen war allerdings schon so beschädigt, dass ich für jede Ex und jede Schulaufgabe einen Spicker parat hatte. Nie wurde ich damit erwischt – ich war doch das ruhige und angepasste Mädchen. Meine Herkunft spielte an der Realschule keine Rolle. Es gab einfach mehr Landeier wie mich an der Schule. Meine Noten waren gut und lernen musste ich nie. Ich spickte mich durch bis zu den Abschlussprüfungen. Das war das erste Mal, das ich tatsächlich lernte. Und da war ich überrascht, das ich doch lernen konnte und gute Noten bekam. Komisch….

Berufsleben

Der Start ins Berufsleben verlief holprig. Ich ergatterte einen Ausbildungsplatz in einem Verlag. Bürokauffrau war nun wirklich nicht mein Traumjob. Aber mit Realschulabschluss damals gab es nicht so viel Auswahl. Der Verdienst war gut und nach 2 Wochen durfte ich schon die Aufgaben eines Azubi im 2. Lehrjahr übernehmen. Dann kam die Seniorchefin vom Urlaub zurück und mobbte täglich meine Kolleginnen. Ihre verbalen Attacken und ihre Ungerechtigkeiten waren für mich kaum zu ertragen. Als sie mich dann auch noch ins Visier nahm kündigte ich fristlos.

Dann kam ein kurzer Abstecher an die FOS und schließlich landete ich in einer Übertrittsklasse am Gymnasium in Augsburg. Auf meine Frage nach Hilfe bezüglich der fehlenden Mathejahre bekam ich eine abweisende Antwort – das gibt es nicht. Ich müsse den Stoff selber nacharbeiten. Die Atmosphäre an dem Gymnasium erinnerte mich sehr an früher. Schienen wohl überall die gleichen Lehrkräfte zu sein. Ist halt nicht gut, wenn Lehrkräfte kaum pädagogische Ausbildung haben (bis heute ist das leider so bei Gymnasiallehrkräften). Ich kämpfte mich mit der Hilfe meiner Brüder durch Mathe der letzten 3 Jahre und schaffte es sogar den Stoff aufzuholen. Dabei kamen aber die anderen Fächer zu kurz und natürlich schaffte ich es noch nicht in der Geschwindigkeit zu arbeiten wie die anderen. Kurzum – meine Noten waren im unteren Bereich. Meine Anstrengung wurde nicht gewürdigt und ich nicht von der Schule unterstützt. Zum Halbjahr brach ich ab.

Ich begann ein Praktikum an einer Behinderteneinrichtung. Zum einen um Geld zu verdienen, zum anderen um meine Lebenszeit sinnvoll zu nutzen. In mir reifte der Entschluss Physiotherapeutin zu werden. Das schien mir ideal für mich. Kein Mathe, selbständig mit Menschen arbeiten können und sinnvolles Wissen erwerben. Doch damals war es schwer mit einem Realschulabschluss einen Schulplatz zu bekommen. Alle privaten (eigentlich unbezahlbaren) und staatlichen Schulen lehnten mich ab oder ich kam nur auf Nachrücklisten. Wer Abitur hatte wurde bevorzugt. In der Wartezeit machte ich eine kurze Ausbildung zur Kneipp- und med. Bademeisterin. Ich machte das auch um mich auf die Physiotherapeutinnen-Ausbildung vorzubereiten. Leider brachte das keinen Erfolg. So kam Plan B zum Zug: Kinderkrankenschwester-Ausbildung in Karlsruhe.

Die brachte ich tatsächlich zum Abschluss. Aber mit der Gewissheit niemals in der Pflege arbeiten zu wollen.

Berufsausbildung abgeschlossen – zurück auf Null

Das Beste an der Zeit in Karlsruhe war dass ich meinen Mann kennenlernte. Endlich jemand der mir auf Augenhöhe begegnete und mich verstand. Beruflich kamen noch ein paar kleinere Stationen dazu. Dann kamen erst mal unsere Kinder und ich stieg aus dem Erwerbsleben aus.

Ab jetzt: Hochbegabt!

Mein Leben wäre vermutlich weiter in diesem Underachievement mit Minderwertigkeitsgefühlen, unbefriedigenden Jobs und der Wahrnehmung das ich einfach zu dumm für diese Welt sei, verlaufen wenn nicht bei meinen Kindern die Hochbegabung festgestellt worden wäre. Um zu verstehen woher es kommt und ob ich auch betroffen bin, ging ich zur Testung. Tadaaa: Hochbegabt! Sogar im mathematischen Bereich!

Bis heute spüre ich die Narben in meiner Persönlichkeit. Narben aus den Jahren der Minderwertigkeit, der schlechten Bewertungen von Lehrkräften. Blockaden wenn´s ums Lernen geht usw. Manches ist weicher geworden. Manches scheint immer noch unüberwindbar. Mit Mathe habe ich immer noch keinen Frieden geschlossen. 

Folgen des Underachievements

Mittlerweile war ich als weitergebildete Familien- und Gesundheitskrankenpflegerin im Bereich Frühe Hilfen aktiv. In meiner Freiberuflichkeit wurde ich vom Jugendamt vermehrt als Sozialpädagogische Familienhilfe „light“ eingesetzt. Da ich eine Ausbildung zur therapeutischen Seelsorgerin gemacht hatte konnte ich in schwierigeren Fällen gut eingesetzt werden. Natürlich nur zum Gehalt der Kinderkrankenschwester. In der sozialen Arbeit gibt es viel Ausbeutung! Mein Hunger nach Weiterbildungen war geweckt. Denn das machte Spaß und ich musste nix lernen um gut darin zu sein! Finanziell war der Job ein Desaster und in der Corona-Zeit brachen einfach viele Einnahmen weg. Das geht nicht wenn man 3 Kinder hat und auch der Ehemann im sozialen Bereich arbeitet.

Studiere doch einfach! Das war die Lösungsidee von Freunden. Wenn das so einfach gehen würde. Zum Studieren braucht man Zeit und Geld. Wenn beides nicht vorhanden ist und auch ein Studienplatz an den schlechten Abschlussnoten der Ausbildung scheitert ist es schwierig. Soziale Arbeit wollte ich studieren. Auf 2 berufsbegleitende Studienplätze kam ich auf die Warteliste auf einen aussichtslosen Platz. All meine Weiterbildungen und Berufserfahrungen wurden nicht anerkannt. Ein Fernstudium kam für mich nicht in Frage. Ich könnte mir nie vorstellen mein Lernen selbständig zu organisieren ohne direkte Rückmeldung. Vermutlich würde ich monatelang bezahlen ohne vorwärts zu kommen. Das finanzielle Risiko ist mir zu hoch.

Wenn man nicht die passenden Papiere hat dann hilft auch die Intelligenz nicht weiter. Denn um Intelligenz geht es nicht.

Ein Sicherheitsausflug (sicheres Einkommen, soziale Absicherung) ins Amt (während Corona) für 3 Jahre zeigte mir aber dass ich mich nicht dauerhaft langweilen kann ohne mentalen Schaden davon zu tragen. 

Selbst Ständig Frei

Über einige Jahre hinweg war ich schon nebenher im Bereich Beratung und IQ-Testung selbständig. Jetzt war der Moment gekommen, mich zu 100 % selbständig zu machen. Und das war die beste Entscheidung meines Lebens. Einfach machen und nicht aufgeben. So mache ich jetzt täglich das, was mir Spaß macht. Und es gelingt. In völliger Unabhängigkeit, keinem Verein, keinem Arbeitgeber Rechenschaftspflichtig sondern nur den Menschen gegenüber, die ich begleiten darf. 3 Elterngruppen sind seither entstanden und viele Kinder konnten sich psychisch stabilisieren, Klassen überspringen und ihr Selbstvertrauen stärken. Familien können entspannter mit ihren Kindern umgehen. Lehrkräfte schlagen neue Wege ein um die intelligenten Kinder besser fördern zu können – übrigens zum Vorteil auch für die anderen Kinder.

Es ist viel passiert seit ich den Zugang zu meinem Potential gefunden habe. Es wäre aber ganz anders gekommen wenn die Hochbegabung nicht entdeckt worden wäre. Das habe ich meinen Kindern zu verdanken!

Bis heute werden hochbegabte Kinder in den Schulen zu selten erkannt und noch weniger gefördert. Gerade die braven angepassten Mädchen laufen Gefahr Minderwertigkeit und Depressionen spätestens im Erwachsenenalter zu erleben wenn sie nicht gefördert werden. Mein Fokus ist nie die erfolgreiche Schulkarriere sondern die mentale Gesundheit und stabile Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Das ist auf Dauer wichtiger als sich für ein kaputtes Schulsystem anzupassen.

Mein eigener Lebensweg hilft mir dabei, den Zugang zu den unentdeckten Frauen in den helfenden Berufen zu bekommen. Denn Hochbegabung kommt in j e d e m Beruf und in j e d e r sozialen Schicht vor! Ich habe mich davon verabschiedet die passenden Papiere zu bekommen um anerkannt oder angenommen zu werden.