Blog

Ganz normal sein

Ich unterhielt mich mit einem Arzt. Wir sprachen über die Situation unserer Kinder im Homeschooling. Er berichtete, wie sehr sein Sohn es genießt, sich die Zeit selber einteilen zu können. Er habe endlich genug Zeit für´s Programmieren. Und in langweiligen Videokonferenzen hat er jetzt die Möglichkeit, sich nebenher mit anderen Dingen zu beschäftigen. So kann er aufmerksamer bleiben und bekommt mehr vom Unterricht mit als im Präsenzunterricht.

Ich frage daraufhin ganz unbedarft, ob der Sohn denn hochbegabt sei?

Dieser Vater reagierte wie so viele – oh nein. Er ist ganz normal. Er soll auch ganz normal seine Schule machen.

Tabubruch

Immer wieder erlebe ich, dass es ein Tabu ist, über Hochbegabung zu sprechen. Der Wunsch der meisten, betroffenen Eltern ist: Ihr Kind solle einfach normal sein. Da stehen sofort Ängste im Raum gepaart mit Vorurteilen.

So auch bei diesem Arzt. Ich lies nicht locker und legte nach, dass diese Erfahrungen häufig bei Kindern mit einer Hochbegabung seien. Er vollendete schweigend seine Arbeit. Mit einem freundlichen Gruß verabschiedete er sich.

Darf man Hochbegabt sein?

In solchen Momenten gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Hätte ich besser schweigen sollen? Ist es denn besser, wenn man nichts von seiner Hochbegabung weiß? Aber ich kenne so viele Erwachsene mit Hochbegabung, die ein Leben lang tausend unbeantwortete Fragen in sich trugen. Warum fühle ich mich immer als Außenseiter. Warum verstehen die anderen mich nicht? Bin ich zu dumm? Warum können die anderen diese einfachen Aufgaben nicht bewältigen. Das ist doch kein Problem? Irgendwie gehöre ich nirgends dazu.

Fehldiagnosen

Menschen mit Hochbegabung, die aufgrund von Fehldiagnosen wie Borderline, ADHS, Autismus usw. Jahrelang in Therapie sind aber keine Besserung eintritt. So viel Leid und verlorene Zeit.

Eine Besserung tritt erst dann ein, wenn die Hochbegabung erkannt und mit berücksichtigt wird. Dann plötzlich kommt es zu einer Verbesserung und Stabilisierung.

Hochleister

Eine Mutter mit Hochbegabung findet es völlig normal, dass man mehr als 8 h am Tag arbeitet. Sie kann es nicht verstehen, wie KollegInnen froh sind, wenn sie heim aufs Sofa können und dann einfach nur noch chillen möchten. Auch bei ihren Kindern erwartet sie, dass diese den ganzen Tag von früh bis spät mit Schule, Hausaufgaben, Sport und Kursen durchgeplant sind und hat dabei jedes Maß verloren.

Sie war schon immer eine Hochleisterin. Der innere Turbo lässt nichts anderes zu als Vollgas.

Für 3 arbeiten

Da war der Vater, der nach seinem Stellenwechsel feststellte, dass sein alter Job mit 3 Vollzeitkräften nachbesetzt wurde. Dabei hat er sich dort doch immer gelangweilt…..

Wer bin ich – wer sind die anderen?

Wer bin ich – wer sind die anderen? Eine zentrale Frage im Leben jedes Menschen. Was wir sind, das sind wir in Beziehungen. Und wenn wir für unser Anderssein keine Erklärung haben führt dies meist zu einer inneren Abwertung des Selbst. Und das ist alles andere als hilfreich.

Wenn ich mein Potential kenne dann kann ich auch die anderen Potentiale meiner Mitmenschen besser verstehen und einschätzen. Dann kann ich auch lernen, mich selber wert zu schätzen und besser für meine eigenen Bedürfnisse sorgen.

Sand im Getriebe

Schüler mit Hochbegabung müssen sich nebenher mit etwas anderem beschäftigen, wenn der Unterricht im Tempo langsam wird um überhaupt noch etwas mitzubekommen. Sonst kommt soviel Sand ins Getriebe, dass die Räder stillstehen und dann gar nichts mehr geht.

Erwachsene mit Hochbegabung brauchen Abwechslung in ihrem Arbeitsleben. Eintönigkeit und Langsamkeit führt wie bei den Schülern zu Sand im Getriebe. Dann geht nix mehr – Boreout (hat leider die gleichen Symptome wie Burnout, muss aber ganz anders behandelt werden).

Hochleister dürfen lernen, dass es auch Menschen mit Hochbegabung gibt, die keine Hochleister sind. Sie verirren sich manchmal in ihren komplexen Gedankengängen und brauchen Zeit um jedes Detail anzuschauen und dann die richtigen, mehrfach überprüften, Schlüsse zu ziehen. Die Intelligenz mag die gleiche sein aber der Output unterscheidet sich deutlich.

Einzigartig

Jeder Mensch ist einzigartig und gerade bei Menschen mit Hochbegabung gibt es eine enorme Vielfalt. Es gibt viele Gemeinsamkeiten in der Art und Weise wie das Denken funktioniert. Aber die Ausprägungen sind sehr divers. Und genau deshalb greifen keine Standardtherapien – es braucht immer eine individuelle Herangehensweise.

Einfach normal sein?

Einfach normal sein – sorry, aber das geht nicht. Es sei denn das Diversität als Normalität festgelegt wird. Dann, aber nur dann sind wir alle normal. Vom Mensch mit geistiger Behinderung bis zum Menschen mit Hochbegabung. Aber solange Normalität durch die größte Anzahl der Menschen mit ähnlichen Merkmalen definiert wird kann ein Mensch mit Hochbegabung niemals „normal“ sein.

Es gibt noch viel zu tun 😉