Corona-Folgen und kein Ende

Immer häufiger tauchen Jugendliche in meiner Praxis auf, deren psychische Auffälligkeiten sich gleichen und gleichzeitig nirgendwo richtig einzuordnen sind. Mittlerweile gibt es erste Berichte von verschiedenen Professionen über diese Kinder nach Corona. Eine Fallbeschreibung (der Fall ist verfälscht und eine Mischung aus mehreren Geschichten):

Mila (Name ist natürlich geändert) ist 15 Jahre alt. Zu Beginn des ersten Lockdowns 2020 war sie 12 Jahre alt. Sie hat die erste Zeit sehr genossen denn Schule war nie besonders toll für sie. Mila hatte nur spärlichen Kontakt mit den Lehrkräften und von Tag zu Tag verschwand auch ihre Lernmotivation.

Wechselunterricht genoss sie sehr. Endlich gab es im Unterricht auch mal Zeit für Vertiefung und spannende Fragen. Nicht dieses ewige Aufschieben auf die Oberstufe oder einfach nur „später“. Die kleine Klasse war für alle eine Wohltat.

Doch mit Beginn der Normalität verschwand das gute Gefühl. Schule fühlte sich plötzlich viel anstrengender an als früher. Alle redeten nur noch davon so viel nachholen zu müssen. Der Notendruck wurde enorm. Es wurde zu einem regelrechten Krampf. Immer häufiger bekam Mila Kopf- oder Bauchschmerzen. Sie ließ sich vom Unterricht abholen. Eltern und Lehrkräfte waren ratlos. Auch Mila konnte nicht erklären, was mit ihr los war.

Nachmittags und am Wochenende traf sie sich mit ihren Freundinnen. Da wirkte sie glücklich und ausgeglichen.

Als Mila morgens Panikattacken entwickelte brachten sie die Eltern in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dort wurde dann zwar bei einer ausführlichen Diagnostik eine Hochbegabung festgestellt, doch die wurde in der weiteren Behandlung nicht berücksichtigt. Die altbekannten Methoden fanden Anwendung. Darunter auch medikamentöse Behandlung gegen Depressionen oder auch für verbesserte Konzentration. Mila ging es aber nicht besser. Ihr Zustand „stabilisierte“ sich. Mit 2 verschiedenen Diagnosen wurde Mila nach 6 Monaten entlassen. Die Kinder- und Jugendpsychiatrische Station brauchte den Platz für dringendere Fälle. Eine angeschlossene ambulante Psychotherapie brachte auch keine Verbesserung.

Über den Online-Artikel im Sonntagsblatt kam die Familie zu mir in die Praxis. Ein weiterer IQ-Test bestätigte die Erkenntnis der Hochbegabung. Da Mila aber auch psychisch in einem schwierigen Zustand war konnte man nicht mit klassischer Förderung beginnen. Es mussten viele verschiedenen Rädchen gedreht werden, damit eine Besserung erreicht werden konnte.

Diese waren: Kontakt zu anderen Peers mit hoher Intelligenz. Raum für die nicht ausgesprochenen und nur schwer fassbaren Gefühle, die mit ihrer Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit, als auch der fehlenden Resonanz von außen (im Lockdown) zusammenhingen. Wechsel auf eine Schule für Hochbegabte. Dort konnte man auch mir Milas Widerstandsbildung (sehr typisch bei hochbegabten Kindern) besser umgehen. Die Lehrkräfte versorgten Mila mit ausreichend Sachinformationen so dass Mila in eine Complianze gehen konnte. Milas Themen waren: Wer bin ich? Wer sind die anderen? Warum macht mir Schule so große Angst?

Mila hatte in der Grundschule und auch im Kindergarten schon Bossing durch Lehrkräfte selbst erlebt oder bei anderen Kindern mitansehen müssen. Das hatte sie so einigermaßen verarbeitet. Dann kam Corona. Die Reduktion auf die reine Leistungsebene nach Corona triggerten die alten Gefühle an und holten sie hoch. Außerdem fehlte ihr die Tagesstruktur, die in diesem besonderen Alter mit den hormonellen Veränderungen enorm wichtig ist und sehr schwer selbst herstellbar ist. Da hatten sich schwierige Muster eingeschliffen. Mila ist immer noch auf dem Weg der Besserung.

Und ich bin immer noch am Lernen dabei. Es gibt selten einfache, vorgezeichnete Lösungswege bei hochbegabten Kindern. Vieles hilft den meisten, aber die Details sind sehr unterschiedlich.

Ich habe festgestellt, dass es nicht hilfreich ist, standardisierte Programme abzufahren oder die Kinder in „Störungsschubladen“ zu stecken. Da passt nämlich keine. Die intensive Wahrnehmung der Gefühle bei intelligenten Kinder ist der Ansatzpunkt. Da geht es um Wahrnehmung, sein dürfen, Regulation und Integration. Und ein gutes Zusammenwirken der Systeme.

Die ersten Fachkräfte haben verschiedene Risikofaktoren zusammengetragen für die psychischen Folgen der Corona-Kids:

  • Vorerkrankungen oder Belastungen
  • Alter (beginnende Pubertät)
  • familiäre Belastungen (waren bei Mila nicht vorhanden)
  • Mobbing/Bossing (bei Mila die Bossingerfahrungen in Kindergarten und Grundschule)
  • fehlende Freunde (Mila war gut integriert und traf sich regelmäßig mit Freundinnen)

Die Kinder zeigen depressive Symptome, die aber nicht durchgängig vorhanden sind. Die Symptome stehen immer im Kontext zur Schule. Es ist keine klassische Schulangst. Denn manchmal schaffen es die Kinder durchaus hinzugehen. Doch die Rahmenbedingungen in der Schule lösen die Symptomatik aus.

Wie berichten die Kids über die Folgen der Corona-Zeit? Dazu mehr in den Ergebnissen meiner Schülerumfrage.