Tante Else – Geschichte einer unentdeckten Hochbegabung

Tante Else Jahrgang 1925

Heute erzähle ich exemplarisch die Geschichte von Tante Else. Ich bin nicht verwandt mit Tante Else – doch ich durfte sie kennenlernen. Und auch Else heißt eigentlich nicht Else.

Wenn man sich die Familiengeschichten von Familien mit Hochbegabung anhört dann trifft man immer wieder auf ähnliche Geschichten wie die von Tante Else.

Sie wollte immer alles ganz genau wissen

Tante Else war eine von 2 Töchtern eines Schuhmachermeisters. Sie war ein quirliges Mädchen, das alles immer ganz genau wissen wollte. Ihr Vater erklärte ihr in seiner Werkstatt die Welt. Tante Else und ihre große Schwester waren fasziniert von den Erzählungen des Vaters. Else war immer schon mehr praktisch veranlagt. Anders ihre Schwester, die sich mit Büchern umgab werkelte Else in Vaters Schusterei kräftig mit. So machte Else denn auch nach der Schule die Ausbildung zu Schusterin.

Das war damals, 1943 noch sehr ungewöhnlich. Sie war als junge Frau die einzige weit und breit, die diesen Beruf lernte. Um Vaters Werkstatt später auch übernehmen zu können besuchte sie auch die Meisterschule. Sogar die lokale Zeitung berichtete in einem großen Artikel über die bestandene Prüfung der Meisterin 1953.

Elses Schwester ging nach Amerika. Die bäuerliche Region war ihr zu eng geworden und sie sehnte sich nach der großen weiten Welt. Else aber übernahm die Werkstatt des Vaters und führte sie mit ihm gemeinsam bis zu dessen Tod fort.

Else war bekannt dafür, dass sie eigen war

Else war bekannt dafür, dass sie eigen war. Sie war immer interessiert an allem, was um sie herum passierte. Die Eltern hatten sie zur Sparsamkeit erzogen, welche Else perfektionierte. Nichts wurde weggeworfen, was man noch irgendwie brauchen konnte. Else kannte noch die Not aus Kriegstagen. Das prägte sie sehr. In ihrer Freizeit war sie mit Langlaufskiern unterwegs. Im örtlichen Skiclub erlangte sie so manches Abzeichen dafür. Außerdem reiste sie sehr gerne. Sie besuchte die Schwester in New York und unternahm mit ihr gemeinsam Ausflüge zu vielen Sehenswürdigkeiten in Amerika.

Zuhause in dem kleinen Dorf las sie die New York Times, die sie von der Schwester regelmäßig zugeschickt bekam. Else war immer bestens informiert.

Nach dem Tod des Vaters gab sie die Schuhmacherei auf und arbeitete dann als Verkäuferin.

Else war besonders. Sie war bis ins hohe Alter quirlig und interessiert am Leben. In Ihrer Jugend nannte man sie den Bub der Familie … Zeitlebens blieb sie Single. Für einen Mann war kein Platz in ihrem Leben. Sie liebte es, selbstbestimmt zu leben.

Auch im Alter, als die Augen schon schwächer wurden wollte sie unbedingt weiter selbst mit dem Auto fahren. Sie hatte zwar ein paar kleinere Unfälle, aber in dem Punkt blieb sie stur.

Else war auf allen Familienfeiern präsent – egal ob eingeladen oder nicht – für sie wäre es undenkbar gewesen dort nicht aufzutauchen. Ihr Wissensdurst war unerschöpflich und auf Familienfeiern gab es immer Neues zu hören.

Da sie selbst keine Familie hatte beschenkte sie die Kinder der Familienangehörigen zu Ostern und Weihnachten mit Süßem.

Else war keine klassische Hochbegabte

Else war keine klassische Hochbegabte. Doch wer sie kannte und in ihre Augen sah – konnte es sehen. Dieser messerscharfe Verstand und die unendliche Neugier strahlte aus ihr heraus.

Warum erzähle ich die Geschichte von Tante Else? Sie steht exemplarisch für viele Geschichten aus dieser Zeit. Exemplarisch für Geschichten von Familienangehörigen aus HB-Familien. Denn da tauchen immer wieder solche Unikate auf. Menschen, die anders waren. Die die Welt anders begriffen – die immer neugierig blieben und Lust auf das Leben hatten. Und – aus fachlicher Sicht – nicht gefördert wurden. Das wird in den Lebensläufen dann auch immer wieder sichtbar.

Else hatte die Meisterprüfung mit Bravour bestanden – sie hätte locker eine weitere Ausbildung machen können. Doch Else war sich ihres Könnens nicht bewußt. Sie sah es als „normal“ an, so rege im Geiste sein zu können. Niemand gab ihr dieses Feedback, dass sie begabt sei. Ihre Gegenüber steckten sie schnell in eine Schublade mit der Aufschrift „komisch“. Und da sie alleinstehend war gab es außer ihrer Schwester niemand, der sie wirklich auch fördern wollte.

Hochbegabte fallen aus der Norm

Else, Oskar, Karl, Johanna und wie sie alle heißen – Hochbegabte finden sich in jedem Stand, in jedem Beruf, mit jeglichem Bildungsabschluss. Eines eint sie – sie fallen aus der Norm. Selbst dann, wenn sie ein Leben lang versuchen Normkonform zu leben.

Wenn eine Hochbegabung früh erkannt und gefördert wird dann entwickeln diese Menschen ein gesundes Selbstwertgefühl und können ihr Potential nutzen. Wenn nicht, erhalten sie ein Leben lang dieses Feedback irgenwie anders zu sein ohne es richtig zuordnen zu können. Das kann dann auch zu verschiedenen Passungsstörungen führen, die sich in psychischen Krankheitsbildern manifestieren.

Für die Erkennung und Förderung einer Hochbegabung ist es allerdings nie zu spät. Denn das Gehirn bleibt bei diesen Menschen bis ins hohe Alter leistungsfähig.