Erfahrungen hochbegabter Schüler mit Homeschooling während dem Corona-Lockdown

 

Der März 2020 begann mit einer spannenden Erfahrung für Schulkinder mit Hochbegabung. Endlich Homeschooling. Bislang gab es diese Schulform in Deutschland überhaupt nicht. Sogleich schrieb ich einige mir bekannte Eltern an und ermutigte sie, die Erfahrungen während dem Online-Unterricht festzuhalten. Daraus ergaben sich spannende Erkenntnisse:

Insgesamt 23 Familien mit mindestens 50 Schulkindern jeden Alters haben sich an der Umfrage beteiligt. Die Erfahrungen hingen sehr davon ab, ob sich das Kind grundsätzlich wohlfühlt in der Schule und die Schule ein passender Lernort ist. Wenn ja, dann vermissten die Kinder die Schule schon. Wenn nein, dann blühten die Kinder zu Hause förmlich auf und alle bisherigen Stresssymptome (Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Ängste, fehlende Motivation usw.) waren verschwunden.

Herausforderung Datenübermittlung

Insgesamt fiel es allen recht leicht, sich den Stoff selbständig zu erarbeiten. Unnötige Wiederholungen konnte man ja einfach mal weglassen. Vieles wurde eh nicht kontrolliert von den Lehrerinnen. Abgesehen von den sonstigen Hindernissen wie Überlastung von Mebis oder W-Lan, das zusammenbricht, lief die Übermittlung der Aufgaben recht gut. Manche Grundschulen druckten die Aufgaben aus und ließen sie von den Eltern abholen. Andere Schulen verschickten die Aufgaben als PDF-Datei per E-Mail. Und wieder andere nutzten Plattformen wie Mebis. Manche Lehrerinnen boten eine Telefonsprechstunde an oder kommunizierten direkt per Whatsapp oder E-Mail mit den Schülern. Es gab Aufgaben für die ganze Woche oder auch für einzelne Tage. Vieles orientierte sich am bisherigen Stundenplan.

Die Kinder, die den Präsenzunterricht in der Schule vermissten waren entweder an einer Privatschule eingeschult oder sie gingen auf einen Hochbegabtenzug eines Gymnasiums. Das Einzige was die anderen an der Schule vermissten waren Sozialkontakte. Aber dazu wäre ein Schulbesuch nicht zwingend nötig.

Für alle ist die Aussicht, dass der neue Schulstart vor allem mit Wiederholungen beginnt, eine enorm schwierige Perspektive. Schließlich bedeutet das wieder Unterforderung mit all den bekannten Auswirkungen: Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Gereiztheit, Müdigkeit, Lustlosigkeit, Depressionen usw. Genau das sind die Dinge, unter denen viele der hochbegabten Kinder die meiste Zeit eh schon leiden. Nicht immer in der vollen Ausprägung.

Hier ein paar repräsentative Zitate aus den Rückmeldungen:
• „Ich finde er arbeitet mehr und bereitwilliger als wenn er in die Schule geht.“ (5. Klasse Gymnasium)
• „Es ist herrlich, wenn man nicht abwarten muss, bis es die Lehrerin 5x erklärt hat und sich alles selber einteilen kann, also das machen kann, worauf man gerade Lust hat.“ (4. Klasse Grundschule)
• „Mara (Name geändert) macht immer alles selbstständig am Stück und danach weiter was sie interessiert (aktuell durch Corona natürlich Viren allgemein sowie Englisch).“ (4. Klasse Grundschule)
• „Sohn (6.Klasse, Hochbegabten-Zug in Baden-Württemberg) – bekommt in den Hauptfächern für jeweils eine Woche Aufgaben, genießt es sehr, seine Arbeitszeit und -tempo selbst einteilen zu können (arbeitet am liebsten von 6.00 Uhr bis 7.30 Uhr) und ist spätestens am Donnerstag mit allen Aufgaben fertig. Angedacht war Unterricht via Zoom, ist aber wohl inzwischen leider wieder verworfen worden.“
• „Ich wäre auf jeden Fall dafür, dass unsere Kinder dieses Schuljahr noch zu Hause unterrichtet werden können. Unseren Kindern würden einfach noch ein paar Wochen Langeweile erspart!
Und was für mich auch noch ein ganz wichtiger Punkt ist, dass der Mark (Name geändert) nicht mehr dem Lehrer ausgesetzt ist, von dem er eigentlich wo es geht gemobbt wird! (4. Klasse Grundschule)
• „Das erste halbe Jahr fand sie die Schule recht spannend und dann machte es den Anschein, dass es langweilig wurde. Im Homeoffice hat sie die Möglichkeit wieder Freude am Lernen zu finden, ohne die ständigen Wiederholungen.“ (1. Klasse Grundschule)
• „Mein Mittlerer mag Lernen zuhause gar nicht und sehnt sich sehr nach Schule, Freunden und den Lehrern als direkte Ansprechpartner. Und das, obwohl er Kontakt via Zoom hatte. PC und Fernsehen u.ä. hatte. Die Kontakte strengen ihn aber sehr an und sind ihm schnell zu viel.“ (Hochbegabtenzug)
• „Unsere Tochter (4. Klasse) lernt seit einigen Wochen von sich aus Spanisch, und Englisch (da es dort leider kein Material für Homeschooling gab) in Eigenregie weiter. Und Latein täte sie auch probieren.… Homeschooling weiter zu machen zu dürfen fände unsere Tochter toll.“
• „Für uns war „Corona“ was das Thema Schule angeht erstmal echt ein Segen!
• Endlich durchatmen, kein Mobbing mehr und nach eigenem Tages-Rhythmus leben (es soll Menschen geben, die können um 20:30 besser rechnen als um 8:30!).“ (3. Klasse Grundschule)
• „Er bräuchte keine Abivorbereitung in der Schule und findet das gerade sehr unsinnig. Lieber würde er sich zu Hause darauf vorbereiten und dann einfach nur zur Prüfung in die Schule gehen.“ (Q 12)

Nachlassende Motivation steht im Zusammenhang mit dem Lernstoff

Nachlassende Motivation gab es natürlich auch mit der Zeit. Allerdings stand das immer im Zusammenhang mit dem Lernstoff, der einfach nicht spannend genug war. Wenn z.B. dann die Mutter das Kind einen Text über Raumfahrt abschreiben ließ (um die Schreibschrift zu üben) dann war das Kind wesentlich motivierter als bei dem Text, der sich nur um die Häschen drehte. Solche Veränderungen, die schnell zu einer höheren Motivation führen, sind in der Schule meist nicht möglich.

Hier noch eine Zusammenfassung der Erfahrungen:

Positiv Negativ Weiteres Homeschooling? Lösungsvorschläge
– Höhere Motivation – Ausdauer – bessere Konzentration – eigenes Tempo – bessere Einteilung der Lerninhalte möglich – geringerer Zeitaufwand dafür Zeit für andere Interessen (weitere Sprachen lernen, eigene Projekte voranbringen…) – Zeit zum Lesen – Harmonischeres Familienleben (Geschwisterstreitigkeiten verschwinden) – lästiges Wiederholen kann vermieden werden – Kinder sind entspannter – Lehrer können leichter individualisieren und z.B. den Stoff von höheren Klassen (Grundschule) bereitstellen – arbeiten im eigenen Biorhythmus möglich (teilweise müssen die Kinder um 6:30 Uhr aus dem Haus um rechtzeitig zum Schulbeginn um 7:25 Uhr da zu sein) – Klassenkameraden und Freunde werden vermisst – fehlende technische Ausrüstung (PC) – kein einheitliches System der Lehrer*innen und Schulen – Arbeitsaufträge unklar strukturiert – es werden teilweise keine Rückmeldungen gefordert → warum sollte man es dann machen? – angebotener Lernstoff langweilig – Vermischung Elternrolle mit Lehrerrolle – zu wenig kreative Arbeitsmöglichkeiten angeboten (Youtube oder interaktive Rätsel…) 85 % sagen eindeutig ja! Diejenigen, die wieder zurück an die Schule möchten besuchen entweder eine Privatschule, sind auf einem Hochbegabtenzug oder haben Bedenken wegen Sonderrolle (Mobbinggefahr) Nur einzelne Tage in die Schule → Wiederholungstage vermeiden! Clusterbildung mit anderen hochbegabten Kindern → um weiter in einem höheren Tempo arbeiten zu können

Die Kinder arbeiten schneller, konzentrierter und motivierter im eigenen Tempo

Aus den Rückmeldungen wurde überdurchschnittlich oft erwähnt, dass die Kinder schneller, konzentrierter und motivierter arbeiten. Und als zweithäufigster Punkt wurde genannt, dass Stresssymptome verschwanden und es den Kindern psychisch deutlich besser ging. Sie waren ausgeglichener und kreativer.

Bei den negativen Punkten ging es meist darum, dass es technische Probleme gab oder das Eltern sich plötzlich in der Lehrerrolle wiederfanden, was für manche eine neue Herausforderung war. Aber das waren nur wenige Rückmeldungen.

Insgesamt war es eine deutlich positive Erfahrung für die Familien.

Die meisten Kinder nutzen normalerweise zahlreiche zusätzliche Angebote wie Sport, Sprachen, Begabungskurse etc. um ihren ständigen Hunger nach Wissen und Anregung zu stillen. Diese Kurse fielen jetzt natürlich auch flach. Aber die Kinder haben sie nicht vermisst. Dadurch wurde klar, das diese Angebote im normalen Schulbetrieb zwingend nötig sind um die tägliche Unterforderung und Anpassung zu kompensieren. Das wiederum ist für mich ein deutliches Alarmsignal, dass sich künftig grundsätzlich etwas an der schulischen Situation für hochbegabte Kinder flächendeckend ändern muss!